Vom Altweibersommer zu Queer Ageing – Feminismus in der Kulturgeragogik
Die 26. Ausgabe des kubia-Magazins fragt, wie der Feminismus wissenschaftliche Diskurse, kulturelle Praxis und weibliche Biografien geprägt hat.
Alter und Geschlecht haben gemeinsam, dass sie häufig nicht als kulturell konstruiert, sondern als natürlich gegeben angesehen werden. Beide werden mit stereotypen Bildern aufgeladen, die diskriminierend wirken können. Dabei sind Frauen* stärker von Altersdiskriminierungen und auch von Altersarmut betroffen. So wundert es nicht, dass von feministischer Seite die Altersthematik früh aufgegriffen wurde. Simone de Beauvoir und Susan Sontag plädieren schon in den 1970er Jahren dafür, den feministischen Blick auch auf die soziale Konstruktion des Alters zu richten. Seit den 2000er Jahren erweitern Gender-und Queer-Theorien die Perspektiven auf die intersektionalen Verschränkungen von Alter(n), Gender, sexueller Orientierung und anderen Diversitätskategorien.
Die Verbindungslinien zwischen beiden Forschungsfeldern liegen auf der Hand: In den Gender Studies werden das biologische Geschlecht, das soziale Geschlecht (Gender) und die Geschlechtsidentität voneinander unterschieden. Die Age(ing) Studies differenzieren das kalendarische vom biologischen Alter sowie das soziale Alter von der gefühlten, subjektiven Altersidentität. Die Debatten drehen sich in beiden Feldern um die Frage, wo die Macht des Biologischen, des Sozialen und des Subjekts in Bezug auf Geschlecht oder Alter anfängt bzw. aufhört. Was jedoch unter den Konzepten von Alter und Geschlecht erforscht und diskutiert wird, hat sich im Laufe des geronto-feministischen Diskurses verändert und ausdifferenziert (vgl. Leontowitsch/Werny 2021).
Die Philosophinnen Simone de Beauvoir und Susan Sontag legen in den 1970er Jahren den Grundstein für kulturwissenschaftliche Alter(n)s- und Geschlechterstudien. 21 Jahre nach ihrer Abhandlung „Das andere Geschlecht“ (1949/1951), in der Simone de Beauvoir die fundamentale Bedeutung der Geschlechterdifferenz für die Konstituierung moderner Gesellschaften herausarbeitet, untersucht sie in ihrem großen Essay „Das Alter“ (1970/1972) dieses als Differenzkategorie. Ohne den Begriff zu benutzen, betont sie schon damals die Notwendigkeit der intersektionalen Querung beider Kategorien und hebt hervor, dass das Alter immer in Abhängigkeit von anderen sozialen Unterscheidungen (wie Geschlecht, aber insbesondere auch Klassenzugehörigkeit) untersucht werden müsse (vgl. ebd., S. 12). Gegen Praktiken der Leugnung und Verdrängung des Alters ruft de Beauvoir zu einer affirmativen Altersidentitätspolitik auf: „Hören wir auf, uns selbst zu belügen; der Sinn des Lebens ist in Frage gestellt durch die Zukunft, die uns erwartet; wir wissen nicht, wer wir sind, wenn wir nicht wissen, wer wir sein werden; erkennen wir uns in diesem alten Mann, in jener alten Frau.“ (Ebd., S. 8)
Auch Susan Sontag verfolgt in ihrem Aufsatz „The Double Standard of Aging“ (1972/1977) die Querungen von Alter und Geschlecht. Mit ihrer Formulierung vom „Double Standard of Aging“ kritisiert sie die Doppelmoral der unterschiedlichen sozialen Altersnormierungen von Männern und Frauen. Ältere Männer seien im Unterschied zu älteren Frauen gesellschaftlich besser anerkannt. Während für Männer zwei Schönheitsideale des jungen sowie des reifen Mannes existierten, seien Frauen allein dem Jugendideal unterworfen. Auch Sontag fordert Frauen zu einer affirmativen Altersidentitätspolitik auf: Sie sollen wahrheitsgetreu ihr kalendarisches Alter nennen und sich dem jugendlichen Schönheitsideal verweigern (vgl. Haller 2020/2010).
Unter dem Slogan „Altern ist weiblich“ thematisiert die Gerontologie der 1980er und 1990er Jahre eine Feminisierung des Alters. Die Schriftstellerin Doritt Cadura-Saf kritisiert schon damals in ihrem Sachbuch „Das unsichtbare Geschlecht“ (1986) die soziale Tabuisierung und verweigerte Sichtbarkeit, die Frauen mit Beginn der Wechseljahre betreffe. Entwicklungspsychologische Studien zeigen die Notwendigkeit differenzieller Sichtweisen auf die inter- und intraindividuellen Unterschiede von Frauen im Alter auf (vgl. Fooken 1980). Während das Thema Alter(n) und Geschlecht in der Alter(n)s-soziologie zu Beginn der 2000er Jahre immer noch als „künftiges Thema“ (Backes 2002) verhandelt wird, ist der große Einfluss, den die feministische Theoriebildung zur gleichen Zeit auf die Etablierung der kulturwissenschaftlichen Alter(n)sstudien hatte, unbestritten (vgl. Hartung 2005).
Inzwischen werden Identitätskategorien als relational und intersektional verschränkt betrachtet, sodass die Forschung die Akkumulation von Altersdiskriminierungen und Teilhabebarrieren von älteren Menschen im Zusammenhang mit Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Behinderung und Bildungsstatus berücksichtigt. So zeigen beispielsweise Studien von Irene Götz (vgl. 2019) eindrücklich die vielfach prekäre Situation und die Teilhabebarrieren von alleinlebenden älteren Frauen in urbanen Räumen auf. In den Care Studies wird die deutlich höhere Belastung von Frauen mit familiärer Pflege belegt und verdeutlicht, inwieweit diese Übernahme von Fürsorgetätigkeiten ein Hauptrisiko für die Altersarmut von Frauen darstellt (vgl. Auth 2020).
Gender und Queer Studies bereichern unter der Bezeichnung „Queer Ageing Studies“ oder „Queer Gerontology“ seit den frühen 2000er Jahren den gerontologischen Diskurs und thematisieren die Auswirkungen der herrschenden Machtverhältnisse einer dominant heteronormativen Kultur auf das Leben von älteren LGBTIQ*-Personen – auch im Hinblick auf Pflege und Soziale Arbeit (vgl. Zeyen et al. 2020). Noch grundlegender kritisiert Simon(e) van Saarloos in ihrem „Queer Manifesto“ (2023) gegen Ageismus die binäre Konstruktion von Alter und Jugend in ihrer Scharnierfunktion mit kapitalistischen, rassistischen, ableistischen und patriarchalen Machtstrukturen. Van Saarloos plädiert für ein fluides und radikal anti-biologistisches, materielles Verständnis von Alter(n) und zeigt auf, dass viele altersbezogene Stereotypen mit einem pädagogischen Lebenslaufregime und hetero-normativen Familienrollen zusammenhängen.
Gender und Queer Studies fordern damit die Alter(n)sforschung zu einem Queering Age heraus. Der Begriff des Queering wird oft nur für Strategien verwendet, sich von zugewiesenen Geschlechterrollen und Heteronormativität zu emanzipieren. Wenn man mit Judith Butler (vgl. 2009) die Queer-Theorie so versteht, dass sie jeden Identitätsanspruch ablehnt, lassen sich Versuche der Durchkreuzung, Verunsicherung, Veränderung und Verschiebung von identitätsregulierenden Altersbildern als Queering Age beschreiben. Angeregt durch Judith Butlers (vgl. 1990/1991) einflussreiche Theorie der performativen Subversion von Geschlechtsidentitäten kommen somit auch die Praktiken der Subversion von Altersidentitätszuschreibungen im Sinne von „Ageing Trouble“ (Haller 2020/2004) und „Un/doing Age“ (Haller 2020/2010) in den Blick kulturgerontologischer und kulturgeragogischer Studien: Wie werden Altersunterscheidungen in den Künsten und der Kulturellen Bildung gemacht oder eben auch nicht gemacht? Wie können stereotype Altersbilder und restriktive Normierungen von Altersidentität performativ unterlaufen werden? Umgekehrt fordert auch Judith Butler die Gender Studies dazu auf, stärker jene Praktiken in den Blick zu nehmen, in denen „der Körper nicht als eine statische und vollendete Tatsache angesehen wird, sondern als ein Alterungsprozess, eine Form des Werdens“, mit der schließlich auch restriktive Geschlechternormen im „Anders-Werden“ überschritten werden können (Butler 2009, S. 53). Der kulturwissenschaftliche Begriff des Alter(n)s wurde in Analogie zum Gender-Begriff neu gefasst: Ebenso wie der Gender-Begriff die Möglichkeit eröffnet, Geschlechterverhältnisse zu untersuchen, ohne selbst die hierarchische, andere Gender ausschließende Binarität von „männlich“/“weiblich“ fortzuschreiben, ermöglicht es der Alter(n)sbegriff die Prozesshaftigkeit des Alter(n)s zu betonen und nach den Gründen für die Oppositionsbildung von „alt“/“jung“ zu fragen, ohne selbst von dieser binären Opposition auszugehen (vgl. Küpper 2010).
Für eine Kulturgeragogik, die stereotype Geschlechter- und Altersbilder sowie Fremd- und Selbstdiskriminierungen älterer Menschen kritisch reflektiert, ist die Rezeption des geronto-feministischen Diskurses grundlegend. Dabei ist für Kulturgeragog*innen die Geschichte dieses Diskurses nicht nur von theoretischer Relevanz, sondern auch notwendig, um die Sozialisation ihrer Teilnehmenden zu verstehen: Intergenerationelle Ambivalenzen gegenüber unterschiedlichen Vorstellungen von Frauen- und/oder Genderpolitik können vor diesem Hintergrund angemessener thematisiert werden. Eine diversitätssensible Kulturgeragogik sieht die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als eines ihrer Querschnittsthemen an und berücksichtigt sie auch in thematisch fokussierten Angeboten. Dabei sollten die Alter(n)s- und Genderkonzepte aller Beteiligten mit den ihnen verbundenen Praktiken des Un/doing Gender und Un/doing Age in den kulturgeragogischen Angeboten fortlaufend ebenso sensibel wie selbstkritisch reflektiert werden.
Diana Auth (2020): Prekarisierung der Pflege(arbeit) = Armut der Pflegenden? In: Regina-Marie Dackweiler, Alexandra Rau, Reinhild Schäfer (Hrsg.): Frauen und Armut. Feministische Perspektiven. Opladen: Barbara Budrich, S. 303-324.
Gertrud M. Backes (2002): „Geschlecht und Alter(n)“ als künftiges Thema der Alter(n)ssoziologie. In: Dies., Wolfgang Clemens (Hrsg.): Zukunft der Soziologie des Alter(n)s, Opladen: Leske + Budrich, S.111-148.
Judith Butler (1990/1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Judith Butler (2009): Außer sich. Über die Grenzen sexueller Autonomie. In: Dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 35-69.