Ließe man sich auf das Spiel der sogenannten Bindestrich-Gesellschaften ein und legte ein recht breites Verständnis von Partizipation zugrunde, könnte man unsere Gegenwartsgesellschaft mit einiger Plausibilität als „Partizipationsgesellschaft“ bezeichnen. Gesellschaftliche Teilhabe, Einbindung oder eben Partizipation war bis etwa in die 1970er Jahre vor allem über eher traditionale Formen der Vergemeinschaftung geprägt: durch die Familie, die Nachbarschaft, die Kirche, Gewerkschaften oder auch die Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit. Der von Ulrich Beck (1986) beschriebene Prozess der Individualisierung und Pluralisierung hat hingegen zu einer Herauslösung aus eben diesen traditionalen Formen der Vergemeinschaftung und zu einer „Entzauberung“ der dort gültigen Wert- und Normvorstellungen geführt. Diese sind nicht gänzlich verschwunden, jedoch hat ihre Bedeutung mit Blick auf das, was wir gesellschaftliche Teilhabe oder Einbindung nennen, beträchtlich abgenommen. Die spät- oder auch postmoderne Gesellschaft muss grundsätzlich auf die Mitwirkung und Beteiligung ihrer Mitglieder setzen, denn anders kann sie sich nicht in Gang halten. Sie ist auf die Eigeninitiative sowie das Tätigwerden und Tätigsein der Menschen angewiesen. War Partizipation zuvor durch soziale Zugehörigkeiten geregelt, so muss Partizipation heute durch die Individuen selbst hergestellt werden.
Freiheit und Erschöpfung
Dieser Prozess geht auf der einen Seite natürlich mit neuen Freiheiten, neuen Möglichkeiten der Mitgestaltung, Mitwirkung und Selbstverwirklichung einher. Auf der anderen Seite ist jedoch auch klar, dass dieser neue Möglichkeitsraum nicht von allen Mitgliedern der Gesellschaft auf gleiche Art und Weise genutzt werden kann. Die Anforderungen, selbst tätig zu werden und Entscheidungen zu treffen, können bisweilen auch zu einer Überforderung führen. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg (2008) hat diese Überforderungstendenzen recht eindrücklich in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ dargestellt. Das Selbst erschöpft sich daran, es selbst werden zu müssen.
Aus diesen hier nur sehr holzschnittartig skizzierten sozialen Veränderungsprozessen erwächst jedoch nicht nur der an die Individuen adressierte Anspruch, sich einzubringen und sich zu beteiligen, sondern ebenso der normative Anspruch unseres Gemeinwesens, dass jeder Mensch ein Recht auf Teilhabe, auf Partizipation hat.
Recht auf Teilhabe
Dieser normative Anspruch findet sich mittlerweile in ganz unterschiedlichen Feldern unserer Gesellschaft wieder, zum Beispiel als Patientinnen- und Patientenpartizipation im Gesundheitswesen, als partizipative Erziehung in der Pädagogik oder als partizipative Forschung in der Wissenschaft. Zu denken ist zudem natürlich an den vielfach beschriebenen dynamisierten Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen des Politischen. Genannt werden können hier Bürgerhaushalte, Schulparlamente, Migrationsbeiräte, aber auch Seniorenvertretungen, Online-Beteiligungsportale, Bürgerwerkstätten oder Zukunftskonferenzen, Stadtteilkonferenzen, Bürgerentscheide und vieles andere mehr. Die Forderung nach Partizipation erscheint uns im Grunde immer plausibel und muss selbst nicht weiter begründet werden. Wir finden sie – im Sinne der WHO-Definition (2005), die Teilhabe als das Einbezogensein in eine Situation begreift – auf der sozialen Mikroebene der unmittelbaren Lebenswelt und der sozialen Interaktion (zum Beispiel mit Blick auf die Frage, inwiefern sich Menschen mit Demenz in Kommunikations- bzw. Interaktionssituationen „gesehen“, anerkannt und berücksichtigt fühlen) bis hin zur Makroebene gesellschaftlicher Strukturen und Funktionssysteme. Und vermutlich, würde man quantifizieren, finden sich die meisten partizipativen Projekte und Prozesse auf der Mesoebene der Organisationen und Institutionen, des Stadtteils und der Kommune.
Verwandte Begriffe
Dies zeigt: Partizipation und ihre begrifflichen Schwestern Teilhabe, Integration, Beteiligung, Mitbestimmung, Mitwirkung, Mitsprache, Mitgestaltung, Anerkennung und Inklusion sind mittlerweile in das öffentliche Gemeinvokabular eingegangen. Sie kommen vor allem dann zur Sprache, wenn vermutet wird, dass es davon zu wenig gebe. Also: zu wenig Partizipation, zu wenig Teilhabe, zu wenig Integration oder zu wenig Inklusion. Bei aller begrifflichen Unterschiedenheit – die bisweilen eine lediglich nuancierte Unterschiedenheit ist – stellt der Gebrauch dieser Begriffe zumeist eine Problemanzeige dar, die mit spezifischen Forderungen verknüpft wird. Im Zentrum der Problemanzeigen steht zumeist nicht ein generell diagnostiziertes Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe, sondern es rücken bestimmte soziale Gruppen in den Blick, die entweder selbst mehr Teilhabe fordern oder für die diese Forderung in anwaltschaftlicher Funktion von Dritten vorgetragen wird. Zumeist kommen dann auch die begrifflichen Stiefschwestern der Partizipation ins Spiel: Ausgrenzung, Diskriminierung, Missachtung, Stigmatisierung, Marginalisierung oder auch Einsamkeit.
Fallstricke und Paradoxien
Der Partizipation wird dabei einiges zugemutet: Sie soll die Politik aus der Legitimitätskrise führen, den Individuen Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung ermöglichen und schließlich benachteiligten sozialen Gruppen zu mehr Beteiligung und weniger Diskriminierung verhelfen. Es überrascht nicht, dass sich so etwas wie ein Partizipationsoptimismus breitmacht, also die Idee, dass partizipative Prozesse zu guten und vielleicht auch gerechten Entscheidungen führen würden. Und natürlich ist Beteiligung, ist Mitsprache, ist Teilhabe gut. Aber mit Partizipation sind auch einige Fallstricke und Paradoxien verbunden, die sich nicht einfach auflösen lassen, die wir aber in unser Partizipationskalkül einrechnen müssen. Partizipation ist nicht banal, sondern voraussetzungsvoll. Hierzu vier Punkte:
Erstens ist Partizipation nicht gleich Partizipation. Bei der Betrachtung gängiger Stufenmodelle von Partizipation, lassen sich unterschiedliche Stufen der Partizipation hinsichtlich ihres Partizipationsgrads unterscheiden. Je nachdem, welches Modell hier zugrunde liegt, reichen die Stufen von der bloßen Information (sehr niedriger Partizipationsgrad) bis hin zur Entscheidungsmacht (sehr hoher Partizipationsgrad). Geht es also darum, Partizipation zu ermöglichen, so ist immer danach zu fragen, von welchem Verständnis von Partizipation ausgegangen wird, da ansonsten partizipative Prozesse zu Enttäuschung, Demotivation und Desillusionierung führen können.
Zweitens bedeutet Partizipation nicht Harmonie, sondern Konflikt. Konflikte sind der Form der Partizipation gleichsam eingelagert. Interessen werden in partizipativen Prozessen nicht aufgehoben, sondern bearbeitet. Das gilt für alle Ebenen der Partizipation. Partizipative Erziehung, die Beteiligung von Betriebsräten an unternehmerischen Entscheidungen oder Auseinandersetzungen um die „richtige“ Klimapolitik sind Beispiele hierfür. Letztlich bedeutet das, dass Partizipation immer auch mit Konflikt rechnen muss, also anstrengend ist.
Drittens ist Partizipation sozial selektiv, es gibt also das Risiko der Nicht-Beteiligung. Die Möglichkeit, sich zu beteiligen, sich einzubringen oder sich einbezogen zu fühlen, erfordert eine Reihe von Ressourcen und Kompetenzen, die jedoch sozial ungleich verteilt sind. Daten zum bürgerschaftlichen Engagement zeigen, dass unter anderem Bildung, Gesundheitszustand und Alter einen großen Einfluss darauf haben, ob sich eine Person engagiert oder nicht. Es sind vor allem solche Personen und Gruppen, die nicht an Partizipationsprozessen teilhaben, die ohnehin bereits sozial benachteiligt sind.
Dies führt uns zum vierten Punkt, dem Partizipationsparadox. Die eben beschriebene soziale Benachteiligung im Rahmen von Partizipationsprozessen kann zu (weiteren) Marginalisierungs- und Ausgrenzungstendenzen führen, die gleichzeitig – und das ist das Perfide am Partizipationsparadox – durch die Form der Partizipation legitimiert werden. So zeigt zum Beispiel die Analyse des Wahlverhaltens beim Bürgerentscheid über die Verlängerung der Grundschulzeit in Hamburg in 2010, dass hier aufgrund der höheren Wahlbeteiligung der bildungsnahen Milieus eine Entscheidung herbeigeführt wurde, die dem eigentlichen Ansinnen nach besseren Bildungschancen zuwiderläuft. Gleichzeitig wird diese aber aufgrund des partizipativen Charakters der Entscheidungsfindung legitimiert.
Bedeutung für das Alter
Was bedeutet dies alles nun für die Lebensphase Alter? Zunächst einmal ist festzustellen, dass viele Ältere von den anfangs beschriebenen neuen Möglichkeitsräumen Gebrauch machen – die Lebensstile älterer Menschen haben sich vervielfältigt, sie partizipieren an der Gesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen. Kennzeichnend für diese Gruppe sind ein guter Gesundheitszustand, eine ausreichende finanzielle Sicherheit sowie ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau. Gleichzeitig – vermutlich in der derzeitigen gesellschaftlichen Krise mehr als zuvor – wird deutlich, dass ein großer Teil der älteren Menschen von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen faktisch ausgeschlossen ist bzw. nur eingeschränkten Zugang zu sozialer, politischer oder kultureller Partizipation hat. Zu denken ist hier unter anderem an pflegebedürftige Menschen in Pflegeeinrichtungen und der eigenen Häuslichkeit, an die vielfach diskutierten Einsamkeitstendenzen, insbesondere im höheren Alter, an die Verschärfung der Altersarmut, vor allem für ältere Frauen sowie an die immer noch mangelnde Integration von an Demenz erkrankten Menschen. Hier sind vorzugsweise von den Akteurinnen und Akteuren der (sozialen) Altenarbeit weitaus größere Anstrengungen erforderlich, um auch diesen Gruppen – unter Berücksichtigung der genannten Paradoxien und Fallstricke der partizipativen Praxis – ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen.