Büchereien und Bibliotheken sind heute längst nicht mehr nur Orte, um Literatur, CDs, Computerspiele, Zeitschriften oder Hörbücher auszuleihen. Sie sind vielmehr ein Raum der Begegnung, des Austauschs und des Miteinanders geworden. Die Hamburger Bücherhallen arbeiten bereits seit vielen Jahren erfolgreich mit ehrenamtlich Engagierten zusammen. Die „Medienboten“ etwa liefern zuverlässig monatlich Medien an Menschen, die nicht mehr mobil sind, ob in die private Wohnung oder in eine Senioreneinrichtung. Auf Wunsch lesen sie vor und nehmen Literaturwünsche und Medienempfehlungen entgegen.
Gedankenaustausch inklusive
Der ehrenamtliche Medienbote Gerd Reimers wird schon sehnlichst erwartet. Der Senior Wilhelm Simonsohn steht an der Tür und freut sich auf den bevorstehenden Besuch, der ihm neue Hörbücher, Literaturempfehlungen und Musik-CDs mitbringt. Simonsohn ist mit 100 Jahren stark in seiner Sehfähigkeit eingeschränkt und kann die örtliche Bücherhalle selbst nicht mehr besuchen. Auf seine heiß geliebten Hörbücher möchte er jedoch nicht verzichten. Zwischen ihm und dem 77-jährigen Reimers ist in den vergangenen zehn Jahren eine richtige Männerfreundschaft entstanden. So werden bei den regelmäßigen Besuchen nicht einfach nur Medien und Bücher ausgetauscht, sondern auch der ein oder andere Plausch gehalten.
„Die Medienboten sind nicht einfach nur ein Bücherlieferdienst auf zwei Beinen“, betont die Kulturgeragogin Christine Rißmann. „Viel wichtiger ist der Austausch. Bei netten Gesprächen nehmen wir uns Zeit füreinander und genau so ist der Service der ehrenamtlichen Initiative auch gedacht.“ 160 Medienbot*innen sind derzeit in Hamburg unterwegs und versorgen über 500 Senior*innen in Privathaushalten, Alteneinrichtungen, Demenz-WGs und Nachbarschaftstreffs mit Lese- und Hörfutter. Im Jahr 2018 zählten sie mehr als 5300 Besuche.
Kulturgeragogisches Know-how
Rißmann koordiniert das ehrenamtliche Angebot für die Bücherhallen Hamburg und engagiert sich darüber hinaus auch selbst als Medienbotin. Themen wie Partizipation und kulturelles Engagement, biografisches Arbeiten und Stadtteilkulturarbeit waren Inhalte ihrer Zusatzausbildung zur Kulturgeragogin an der FH Münster, die sie 2019 abschloss. „Ich dachte, Mensch, das machen wir so schon seit Jahren, haben es aber nie so genannt!“, so Rißmann. Die Fortbildung motivierte sie, das bisherige Beteiligungsangebot der „Medienboten“ zu erweitern. In ihrem Abschlussprojekt entwickelte sie daher eine Schreibwerkstatt gemeinsam mit den Ehrenamtlichen. Wichtig war Rißmann dabei, die Chance zu nutzen, neue Konzepte des bürgerschaftlichen Engagements zu erproben.
Für die Kulturgeragogin ist die Einbindung Ehrenamtlicher in verantwortliche Aufgaben eine wichtige Erweiterung der bisherigen Arbeit. „Die Zusammenarbeit ist wahnsinnig sinnvoll und wertvoll, da die Beteiligten ganz anders hinter den Projekten stehen. Gerade wenn sie mitgestalten können, machen sie es zu ihrem eigenen Ding! Es wird natürlich mehr Zeit für die Konzeption aufgewendet, aber die Motivation und der Anspruch sind bei den Beteiligten sehr hoch, das ist äußerst interessant!“
Schreiben mit allen Sinnen
„Die Schreibwerkstatt wurde von der ‚grünen Wiese aus‘ entwickelt“, erläutert die Kulturgeragogin. Von A bis Z musste das Konzept komplett neu erarbeitet werden. Dafür konnten eine ehemalige Journalistin und eine Mitarbeiterin aus der Flüchtlingsarbeit als Ehrenamtliche gewonnen werden. In vielen Vorbereitungssitzungen entstand im Team das Konzept zur Schreibwerkstatt „Meine Geschichte“. Menschliche Sinne, wie Geschmack, Geruch und Tasten, Hören und Sehen, standen im Fokus der einzelnen Treffen. Während die ehrenamtlichen Kräfte für die inhaltliche Ausgestaltung zuständig waren, kümmerte sich Rißmann um die Außendarstellung und Kommunikation. In vier Workshops verfassten zwölf Frauen und Männer zwischen 62 und 75 Jahren ihre zum Teil ersten literarischen Texte, inspiriert durch kleine Übungen zum kreativen Schreiben. In Gesprächen über die Themen Kochen und Essen in der Kindheit teilten die Teilnehmenden schöne, aber auch traurige Erfahrungen. Auch das Abspielen von Kirchenglocken löste unterschiedliche Erinnerungen aus, rief teils auch starken Zorn hervor, der sich anschaulich in den Texten widerspiegelt.
Ständige Angebotserweiterung
Die ersten Kurse und Schnupper-Workshops, ausgehend von Ideen der ehrenamtlichen Senior*innen, sind ebenfalls bereits umgesetzt worden. So etwa ein englisches Sprachcafé, das von einer englischsprachigen Engagierten initiiert und von Ehrenamtlichen konzeptionell erarbeitet wurde. Das Angebot richtet sich an alle Menschen – auch an jene, deren Muttersprache nicht Deutsch ist –, die einmal kräftig Englisch sprechen möchten. „Der Kurs ist sehr erfolgreich und wird gut angenommen“, weiß Rißmann zu berichten. Auch das Angebot von „Silber & Smart“ ist ein Konzept der Ehrenamtlichen. „Silber & Smart“ bringt Älteren den Umgang mit digitalen Medien auf niederschwellige Art und Weise näher. Wie bei allen Vorhaben wird auch hier darauf geachtet, dass sich Haupt- und Ehrenamt ergänzen: Einstiegskurse und Workshops entstehen oft auf Initiative von Ehrenamtlichen, die fortführenden Seminare werden über hauptamtlich Tätige sichergestellt.
Die Bücherhallen Hamburg wollen aber noch mehr Partizipation für ältere Menschen ermöglichen. Eine interne Fortbildungsreihe für Mitarbeiter*innen wird sich 2021 um das Thema Senior*innen drehen. „Als Kulturgeragogin bin ich maßgeblich an der Organisation und Konzeption dieser Fortbildung beteiligt. Wir wollen alle im Team sensibilisieren und zudem die Bücherhallen noch mehr für die Zielgruppe und die aktive Einbindung von Älteren öffnen. Ich bin daher immer mehr konzeptionell tätig, werde als Expertin für dieses Thema wahrgenommen und vergrößere unser Netzwerk“, blickt die Kulturgeragogin Rißmann in die Zukunft.
Niemals zu alt
Durch ihre Arbeit für und mit Älteren hat Rißmann viel erlebt und gelernt. Auch ihre Sicht auf das Alter hat sich verändert. „Ich habe vor allem gelernt, dass Lernen niemals aufhört und dass es nicht die ältere Zielgruppe gibt. Eine 90-Jährige kann sich durchaus für dieselbe Literatur interessieren wie ein 50-Jähriger. Zudem glaube ich, dass die Zeit zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr sehr bereichernd sein kann. Es ist eine Phase, in der man wieder mehr Zeit und Bereitschaft für ein Ehrenamt hat oder eigene Ideen verwirklichen möchte. Dabei ist es wichtig, immer mal wieder etwas Neues auszuprobieren und nicht zu denken: ‚Dafür bin ich zu alt.‘“