Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen – Kulturteilhabe und Gesundheit
In dieser Ausgabe der Kulturräume+ geht es um die heilsame Kraft der Kunst und ihre Bedeutung, nicht nur im Alter.
Victoria Hume, die Leiterin der Culture, Health & Wellbeing Alliance, und Farrell Renowden von Age UK geben einen Überblick über die weitreichende Studienlage zu Gesundheit, Wohlbefinden und Creative Ageing in Großbritannien.
Im Jahr 2016 befragte der britische Wohlfahrtsverband Age UK für seinen „Index of Wellbeing in Later Life“ („Index des Wohlbefindens im Alter“) 15.000 Personen über 60 Jahren zu den Einflussfaktoren auf ihr Wohlbefinden. Von allen genannten Faktoren – darunter körperliche Fitness, Bildungsstand, mentales Wohlbefinden und wirtschaftliche Stabilität – wurde der Teilhabe an kreativen und kulturellen Aktivitäten der größte Einfluss auf das eigene Wohlbefinden zugeschrieben (vgl. Age UK 2017). Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2019 zur Rolle der Künste bei der Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden bestätigte, dass nicht nur die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen einen positiven Effekt auf Alternsprozesse haben kann, sondern auch die künstlerisch-kreative Aktivität. Letzteres habe einen bedeutenden zusätzlichen Nutzen und schütze beispielsweise vor kognitivem Abbau – unabhängig davon, ob ein Mensch seine kreativ-künstlerischen Fähigkeiten in einem Kurs erlernt oder im individuellen kreativen Tun ausübt (vgl. Fancourt / Finn 2019).
Eine Auswertung des Marktforschungsunternehmens ComRes im Auftrag des Arts Council England im Jahr 2016 legt nahe, dass drei Viertel der über 65-Jährigen Kunst und Kultur als wichtig für ihr Wohlbefinden erachten. 69 Prozent der Befragten gaben an, dass die Begegnung mit den Künsten ihre Lebensqualität insgesamt steigert. Mehr als die Hälfte gab an, dass sie sich durch die Teilhabe an Kunst und Kunst weniger allein fühlten. Allerdings sagten auch 38 Prozent, dass es für sie schwieriger sei, an Kultur teilzuhaben als in jungen Jahren (vgl. Arts Council England 2016). Es ist also offensichtlich, dass ältere Menschen kulturell teilhaben wollen und daraus großen Nutzen ziehen können. Doch die Barrieren sind groß. Während in der Theorie die Künste einen Ort bieten, an dem jeder und jede einen Platz finden kann, sind sie längst nicht für alle zugänglich – weder für die Macherinnen und Macher noch für Teilnehmende oder Zuschauende. Die Unzugänglichkeit beginnt oftmals beim Bau – Einrichtungen mit spärlichen Ressourcen können ihre Gebäude etwa nicht barrierefrei anpassen. Aber auch soziale Komponenten spielen eine Rolle: In Kunst und Kultur können sich „Szenen“ bilden, die für die einen gemeinschaftsbildend sind, andere wiederum ausschließen.
Die wachsende Erkenntnis, dass kulturelle Barrieren schlecht für die kollektive Gesundheit sind, zeigt allmählich Wirkung auf Kulturpolitik und -förderung. Zwei der Hauptförderer von Kunst und Kultur in Großbritannien haben kürzlich Gesundheit und Wohlbefinden an prominente Stelle ihrer künftigen strategischen Rahmenpläne gesetzt: In „Let’s Create“, der neuen Strategie des Arts Council England für die Jahre 2020 bis 2030, ist zu lesen: „Die Teilhabe an kreativer Aktivität in Gemeinschaft reduziert Einsamkeit, fördert die körperliche und mentale Gesundheit und das Wohlbefinden, unterstützt ältere Menschen und trägt dazu bei, soziale Bindungen zu schaffen und zu stärken.“ (Ebd. 2020: o. S.) Die Förderstrategie für 2019 bis 2024 von The National Lottery Heritage Fund (2019) formuliert: „Wir möchten, dass unser kulturelles Erbe eine breitere Anerkennung findet als ein vitaler Beitrag zu Wirtschaft, sozialem Zusammenhalt, besseren Lebensorten und individuellem Wohlbefinden.“ Der Fonds hat es zu einem verpflichtendem Erfolgskriterium aller seiner Förderprogramme gemacht, dass „eine größere Bandbreite von Menschen an kulturellem Erbe teilhat“.
Parallel zu diesen Entwicklungen im Kunst- und Kultursektor hat das Britische Ministerium für Gesundheit und Soziales kürzlich ein neues Programm zu „social prescribing“ (Soziale Verschreibungen) aufgelegt (vgl. Culture, Health & Wellbeing Alliance 2020a). Mehr als ein Drittel aller allgemeinärztlichen Termine in Großbritannien werden als „non-medical“, das heißt als nicht medizinisch veranlasst, bewertet: Die Bedürfnisse, die von den Patient*innen geäußert werden, sind oft sozialer Natur und hängen mit Armut, Einsamkeit oder milden bis gemäßigten psychischen Problemen zusammen, die eher durch soziale Interventionen statt rein medikamentös oder klinisch behandelt werden sollten. Daher vergibt die Regierung Fördermittel für „linkworkers“ („Brückenbauer“), die Ärzt*innen und deren Patient*innen mit lokalen kulturellen Anbietern in Kontakt bringen sollen – mit Sportstudios und Chören, Laufgruppen und Leseclubs. Eines von vielen nennenswerten Beispielen dieser Arbeit ist das Programm für Ältere „Museums on Prescription“, das vom University College of London (UCL) wissenschaftlich begleitet wurde. Die Evaluation belegt „statistisch signifikante Verbesserungen im psychologischen Wohlbefinden“ im Verlauf eines zehnwöchigen Programms in sieben Museen in London und im Südosten Englands (vgl. Veall et al. 2017). Es ist noch zu früh für eine abschließende Bewertung von social prescribing, aber theoretisch ist es eine Gelegenheit, Kulturorganisationen, die diese Arbeit seit vielen Jahren oft auf prekärer Basis von Projekt zu Projekt ausführen, angemessen zu unterstützen. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn sich die britische Regierung dazu verpflichtet, die Anbieter*innen von social prescribing entsprechend zu fördern.
Über Großbritannien wurde in den vergangenen Jahren gesagt, es leide an einer „Epidemie“ der Einsamkeit. Einsamkeit hat erhebliche Auswirkungen auf unsere geistige und körperliche Gesundheit. Die beiden Gruppen, die für dieses Problem am anfälligsten sind, sind junge und ältere Menschen. Die Einsamkeitsstrategie der britischen Regierung aus dem Jahr 2018 beruht vor allem auf der Teilhabe an Kultur und Kreativität sowie auf social prescribing (vgl. Department for Digital, Culture, Media and Sport 2018). Als Reaktion auf den durch die Pandemie verursachten Anstieg der Isolation hat das Ministerium für Kultur, Medien und Sport nun ein Netzwerk zur Bekämpfung der Einsamkeit eingerichtet, das Kunst- und Kulturschaffende mit kommunalen und weiteren öffentlichen Anbietern zusammenbringt. Bleibt zu hoffen, dass das Netzwerk mit der Cultural Recovery Taskforce (der staatlichen Nothilfe für den Kultursektor in Zeiten von Covid-19) der Regierung zusammenarbeiten wird, damit sichergestellt ist, dass der Zusammenhang zwischen Kultur, sozialer Isolation und Gesundheit in die politischen Entscheidungen der kommenden entscheidenden Monate einfließt. Da Großbritannien die schlimmste Rezession in ganz Europa bevorsteht, ist es wichtig, regierungsübergreifend in Zusammenhängen zu denken, um die psychische Gesundheit von Menschen aller Altersgruppen zu unterstützen.
Der Kultursektor reagierte weltweit auf den Corona-Lockdown mit einem Energieschub. In Großbritannien manifestierte sich dies zunächst in einer Explosion digitaler Angebote: virtuelle Museumsführungen, kostenlose Kreativworkshops, Tanzkurse, Konzerte – kaum ausgesprochen, ging das Angebot schon online. Auf der anderen Seite sind vier Millionen Menschen in Großbritannien komplett offline. Es handelt sich um dieselben Menschen – häufig ältere oder Personen mit Behinderung oder aus ärmeren Gemeinden –, die wahrscheinlich die Hauptlast der zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheiten in Großbritannien und von Covid-19 tragen.
Die Culture, Health & Wellbeing Alliance (2020b) hat kürzlich einen Bericht über 50 kreative Programme veröffentlicht, mit denen 100.000 Menschen erreicht werden sollten, die aufgrund ihres erhöhten Risikos, an Covid-19 zu erkranken, gezwungen sind, zu Hause zu bleiben. Die meisten dieser Projekte beinhalten eine Mischung aus Online- und Offline-Komponenten. Einige wurden komplett offline durchgeführt, hauptsächlich per Telefon und Post. Ein Viertel wurde speziell für ältere Menschen konzipiert. Diese reichten von großen Projekten – wie das der Greater Manchester Combined Authority, die 16.000 Kreativpakete an ältere Menschen ohne digitalen Zugang verschickt hat – bis hin zu kleinen, fokussierten Projekten – wie „Smile Inside“ von Inclusive Intergenerational Dance. Das Projekt möchte isolierte ältere Menschen, freie Künstler*innen und Menschen aus dem Wohnumfeld miteinander in Kontakt bringen: Die Älteren werden gebeten zu erzählen, was sie innerlich zum Lächeln bringt, während die beteiligten Künstler*innen und Menschen aus der Nachbarschaft die Geschichten vorlesen und darauf in Briefen antworten, um wiederum den ursprünglichen Geschichtenerzähler*innen „ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern“. „Es hat mir große Freude gemacht zu wissen, dass Sie mir zugehört haben“, resümierte ein Geschichtenerzähler.
Tatsächlich scheint die Pandemie die Wahrnehmung der Bedeutung von Kreativität in weiten Kreisen der Altenarbeit verändert zu haben. Von einer lokalen Niederlassung von Age UK wird berichtet, dass „ältere Menschen jetzt neben ihren Lebensmittelpaketen im Rahmen des Lockdowns auch Kreativitätspakete erwarten“. Angesichts der Verlängerung der Kontaktsperren spielt für sie diese kulturelle Versorgung zunehmend eine Rolle. Es liegen (noch) keine empirischen Daten vor, die dies belegen, aber auch die Covid Social Study des University College London (vgl. UCL 2020) scheint auf ganzer Linie den Schutzcharakter der Kreativität für die psychische Gesundheit widerzuspiegeln. Wenn kreative Aktivitäten als Mittel des Selbstausdrucks und der Hoffnung wertgeschätzt werden, so ist dies der Beginn einer Entwicklung, auf der sich aufbauen lässt.
Gleichzeitig gilt es, sich vor einem Wiederaufleben stereotyper Erzählungen über das Altern zu hüten, die in der Pandemie durch die Medienberichterstattung über die Verwundbarkeit älterer Menschen Nahrung gefunden haben. Die Einstufung Älterer als „verletzlich“ war sicher eine notwendige, vorbeugende Maßnahme. Sie hat jedoch die Isolation erhöht und birgt das Risiko, älteren Menschen das Selbstvertrauen zu nehmen und sie wieder in eine Schublade zu stecken, in der sie nicht als aktive, engagierte und kreative Bürger*innen angesehen werden – als Menschen mit dem Potenzial, Veränderungen in unserer Gesellschaft herbeizuführen, wie alle anderen auch. Wir werden alle gebraucht, um nach Covid-19 die Gesellschaft wieder aufzubauen. Nur wenn die Kreativität von Menschen jeden Alters einbezogen wird, kann die Vision einer gemeinsamen Zukunft realisiert werden.
Victoria Hume ist Leiterin der Culture, Health & Wellbeing Alliance.
Farrell Renowden ist Leiter der Abteilung Cultural Partnerships bei Age UK und des Festivals von Age of Creativity.
Age UK (2017): A summary of Age UK’s Index of Wellbeing in Later Life. www.ageuk.org.uk/globalassets/age-uk/documents/reports-and-publications/reports-and-briefings/health–wellbeing/ageuk-wellbeing-index-summary-web.pdf
Arts Council England (2016): Older People Poll. Poll of Older People Aged 65+ About Arts and Culture. www.comresglobal.com/polls/arts-council-england-older-people-poll.
Arts Council England (2020): Let’s Create. Our Strategy 2020-2030. www.artscouncil.org.uk/publication/our-strategy-2020-2030.
Culture, Health & Wellbeing Alliance (2020a): Social Prescribing: Facts and Links. www.culturehealthandwellbeing.org.uk/resources/social-prescribing.
Culture, Health & Wellbeing Alliance (2020b): How Creativity and Culture are Supporting Shielding and Vulnerable People at Home During Covid-19. www.culturehealthandwellbeing.org.uk/how-creativity-and-culture-are-supporting-shielding-and-vulnerable-people-home-during-covid-19.
Daisy Fancourt / Saoirse Finn (2019): What is the Evidence on the Role of the Arts in Improving Health and Well-being? A Scoping Review. Health Evidence Network Synthesis Report, No. 67. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe. www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK553773
Department for Digital, Culture, Media and Sport (2018): A Connected Society. A Strategy for Tackling Loneliness – Laying the Foundations for Change. www.gov.uk/government/publications/a-connected-society-a-strategy-for-tackling-loneliness
François Matarasso (2019): A Restless Art: How Participation Won, and Why it Matters. Calouste Gulbenkian Foundation UK Branch.
The National Lottery Heritage Fund (2019): Strategic Funding Framework 2019–2024. Inspiring, Leading and Resourcing the UK’s Heritage. www.heritagefund.org.uk/about/strategic-funding-framework-2019-2024
UCL (2020): Covid-19 Social Study. www.covidsocialstudy.org/results.
Dean Veall et al. (2017): Museums on Prescription: A Guide to Working with Older People. www.culturehealthresearch.wordpress.com/museums-on-prescription.
Age of Creativity: www.ageofcreativity.co.uk
Culture, Health & Wellbeing Alliance: www.culturehealthwellbeing.org.uk