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  • Tagungsbericht

Inklusion als Querschnittsaufgabe – Das internationale Symposium ALL IN 2022: Der Theaterbetrieb und die inklusiven Darstellenden Künste

von Annette Ziegert

Wie kann der gegenwärtige Theaterbetrieb die Zugangsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderung in den Bereichen Personal, Programm und Publikum fördern? Welche Kompetenzen müssen Mitarbeitende der Arbeitsbereiche Regie, Dramaturgie, Technik und Ausstattung an Theatern aufbauen? Welche strukturellen Voraussetzungen braucht es und welche Veränderungen in den Arbeitsweisen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das international besetzte Symposium ALL IN, das bereits zum vierten Mal gemeinsam von Un-Label e.V. und kubia, dem Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und Inklusion, veranstaltet wurde; in diesem Jahr in Kooperation mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus und dem asphalt Festival Düsseldorf.

Rund 180 Gäste aus dem In- und Ausland nahmen vor Ort in Düsseldorf teil oder verfolgten das Vormittagsprogramm online. Durch das Programm führte kubia-Mitarbeiterin Annette Ziegert.

ALL IN 2022 fand im Rahmen des Modell-Projekts Access Maker von Un-Label statt. Mit Access Maker begleitet Un-Label von 2021 bis 2024 drei nordrhein-westfälische Theaterhäuser (Comedia Theater Köln, Düsseldorfer Schauspielhaus und Theater Dortmund) in ihrem Qualifizierungsprozess für mehr Inklusion und Diversität.

„Barrierefreiheit ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land“

Das Vormittagsprogramm im Düsseldorfer Schauspielhaus eröffnete Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Jürgen Dusel betonte in seiner Eröffnungsrede die Bedeutung von Barrierefreiheit und Inklusion für das demokratische Miteinander. Inklusion und Demokratie seien zwei Seiten derselben Medaille. Das Recht auf Teilhabe dürfe kein staatliches Versprechen bleiben, sondern müsse als gelebtes Recht bei den Menschen ankomme. Für den Kulturbereich bedeute dies Teilhabe am Erleben von Kunst und an Beschäftigungsverhältnissen sowie die Thematisierung von Behinderung in Programmen.

Isabell Pfeiffer-Poensgen, die damalige Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, hob in ihrer Videobotschaft die Bedeutung von Akteur*innen der freien Kunst- und Kulturszene als Impulsgeber*innen für eine inklusive Kunst- und Kulturlandschaft hervor. Mit den neu aufgelegt en Fördermaßnahmen „Diversitätsfonds“, „Neue Normalität“, den „Ergänzungsmitteln Barrierefreiheit“ sowie Pilotprojekten unterstütze das nordrhein-westfälische Kulturministerium sowohl Akteur*innen der Freien Szene als auch kommunale Kultur¬institutionen in ihrem inklusiven Handeln.

„Wir brauchen Expertise von außen“

Cornelia Walter vom Düsseldorfer Schauspielhaus begrüßte die Symposiumsgäste im Namen des Intendanten Wilfried Schulz. Selbstkritisch wies sie auf die landläufige Diskrepanz hin, dass sich das Theater als Ort des gesellschaftlichen Diskurses verstehe, bislang aber nicht ausreichend dafür sorge, dass auch alle daran teilnehmen und diesen mitgestalten könnten. Durch die Teilnahme am Projekt Access Maker nutze das Düsseldorfer Schauspielhaus die Möglichkeit, mithilfe externer Expertise und Beratung die eigene Organisation zu beleuchten und Wissen aufzubauen.

„Ungerechtigkeit ist das Ergebnis bewusster Entscheidungen“

Gewöhnliche Menschen könnten mittels Willenskraft ungewöhnliche Dinge tun und positive Veränderungen bewirken: Mit dieser Ermutigung unterstrich die britische Dramaturgin Kaite O´Reilly in ihrer Key Note „Becoming aware of other bodies from an artistic perspective“ die Forderung, Menschen mit Behinderung nicht weiter in ihrem Recht auf künstlerische Entfaltung einzuschränken. Ungerechtigkeit sei das Ergebnis bewusster Entscheidungen, die durch neue Entscheidungen aufgelöst werden können. „Work with us“ empfiehlt sie dem Theaterbetrieb und meint mit „wir“ Menschen mit Behinderung.

„Educate yourself and be willing to change structures and behaviours.“

Zu welchen künstlerischen Ergebnissen die Zusammenarbeit mit behinderten Schauspieler*innen und die Veränderung von Arbeitsweisen führen kann, zeigten zwei Podiumsgespräche, die jeweils mit Videoausschnitten aus Theaterproduktionen eingeleitet wurden. Die Podiumsrunde mit Anna Wagner (Dramaturgin Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt) und Bijan Kaffenberger (Politiker und Performer) begann mit einem Ausschnitt aus „Chinchilla Arschloch, waswas“, einer Produktion von Rimini Protokoll in Koproduktion mit Künstlerhaus Mousonturm und Schauspiel Frankfurt. Das Stück wurde mit drei Performern entwickelt, die Tourette haben, und nicht haupt-beruflich als Schauspieler auf Theaterbühnen stehen. Die Gesprächsrunde mit der In-tendantin der Münchner Kammerspiele, Barbara Mundel, und der Schauspielerin Lucy Wilke (Kammerspiele München und Freie Szene) wurde mit einem Ausschnitt aus „EFFINGERS“, einem Ensemblestück der Kammerspiele, eröffnet. Deutschlandweit ge-hören die Kammerspiele zu den wenigen Theaterbetrieben mit einem inklusiven Ensemble. Beide Gespräche wurden von Georg Kasch, Kulturjournalist, Redakteur von nachtkritik und ehemaliges Jurymitglied des Berliner Theatertreffens, moderiert.

„Es geht nicht um Allüren, sondern tatsächliche Bedürfnisse“

Mit Anna Wagner und Bijan Kaffenberger sprach Georg Kasch darüber, wie eine Stückentwicklung aussehen kann, in der Absichtslosigkeit Teil des Konzepts ist und sprach damit ungeplante, durch Tourette bedingte Gesten und Äußerungen der Performer an. Sich ausreichend Zeit für die Stückentwicklung zu nehmen und die individuellen Bedürfnisse von Performer*innen konsequent zu erfragen, zu berücksichtigen und dafür gegebenenfalls tradierte Abläufe zu verändern, gehören für Wagner zu wichtigen Erfolgsprinzipien. Bijan Kaffenberger betonte, dass es dabei nicht um Allüren, sondern um tatsächliche Bedürfnisse gehe, deren Berücksichtigung die Teilhabe von Menschen mit Behinderung häufig überhaupt erst möglich mache.

Lucy Wilke betonte im folgenden Podiumsgespräch die Individualität der Bedürfnisse, auf die sich der Theaterbetrieb nur bedingt im Vorfeld vorbereiten könne. Entscheidend sei die Bereitschaft, im laufenden Betrieb flexibel auf diese zu reagieren und die Akteur*innen selbst zu fragen, was sie brauchen. Das betreffe die Mitarbeiter*innen aller Theatergewerke. Hier gebe es häufig Berührungsängste von Menschen ohne Behinderung.

„Begegnung suchen und: machen“

Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel bestätigte die fortwährende Notwendigkeit von Kommunikation innerhalb der gesamten Theaterorganisation und die Bereitschaft aller zu lernen. Sie verhehlte dabei auch nicht die mitunter zähen Prozesse, dauerhafte Veränderungen in das starre Gefüge Theaterbetrieb zu implementieren und das Ausbleiben konsequenter kulturpolitischer Unterstützung in der Umsetzung von Barrierefreiheit. Kolleg*innen anderer Theater empfehle sie, die Begegnung mit Schauspieler*innen mit Behinderung zu suchen, sich Unterstützung von Expert*innen zu holen und: einfach zu machen.

Im Rahmen von Access Maker qualifiziert ein Team von Berater*innen mit und ohne Behinderung, darunter die angehende Kulturpädagogin Roisin Keßler und die Kulturjournalistin Amy Zayed, Mitarbeiter*innen verschiedener Abteilungen der drei kooperierenden Theater – COMEDIA, Köln, D´haus und Theater Dortmund. Direkt vor Ort oder in den so genannten Kreativlaboren – mehrtägigen Workshops mit internationalen Expert*innen. Es gibt abteilungsübergreifende Treffen und Ansprechpersonen, die bei konkreten Fragen weiterhelfen können. Im Gespräch mit Annette Ziegert berichteten Roisin Keßler und Amy Zayed sowie Martina Aschmies (Leiterin Abteilung Kommunikation D´haus) und Stefan Fischer-Fels (Leiter Junges Schauspiel D´haus) im letzten Programmteil vor der Mittagspause von ihren Erfahrungen.

Nach einem Mittagsimbiss im Foyer und auf der Gartenterrasse des Großen Schauspielhauses hatten die Symposiumsgäste vor Ort die Möglichkeit, an insgesamt zwei Workshops teilzunehmen, die im Düsseldorfer Schauspielhaus und der Spielstätte Central stattfanden. Die Workshops richteten sich an Mitarbeiter*innen verschiedener Theatergewerke.

In ihrem Workshop „Alternative Dramaturgieansätze, geprägt von der Perspektive tauber und behinderter Menschen“ thematisierte Kaite O´Reilly die Art und Weise, wie behinderte Körper auf Theaterbühnen repräsentiert werden und gab Einblick in ihre Herangehensweisen: Als Theaterautorin und Dramaturgin arbeitet sie seit Jahrzehnten an Gegenentwürfen zu problematischen Narrativen und erforscht das Potenzial von „Aesthetics of Access“, dem Einsatz von Audiodeskription, Gebärdensprache und Schriftdolmetschung als ästhetische Mittel in der Konzeption von Theaterstücken.

Auch das Dortmunder (Musik-)Theaterkollektiv i can be your translator, Dortmund, erforscht alternative Dramaturgieansätze. Linda Fisahn und Christoph Rodatz berichteten in ihrem Workshop „Mit unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen: Die kollektive Stückentwicklung des (Musik-)Theaterkollektivs i can be your translator, Dortmund“ ausgehend von Videoausschnitten ihrer Stücke „Das Konzept bin ich“ (2018) und „besser ist besser“ (2021) darüber, wie sie als Gruppe von Performer*innen unterschiedlicher kognitiver Voraussetzungen Themen finden, In-halte recherchieren und Stücke entwickeln. Dramaturgische Grundlage sind dabei immer die unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse des Kollektivs.

Der Regisseur und Experte für Audiodeskription im Theater, Matthias Huber, gab in seinem Workshop „Materialien, Formen, Dimensionen: Einführungen in Stück und Inszenierung für blinde und seheingeschränkte Menschen“ praktische Hinweise zur Konzeption von Touch Touren, Bühnenmodellen und Begehungen des Bühnenraums im Vorfeld einer Aufführung. Grundlegend sei es, rechtzeitig zu planen und alle Abteilungen des Theaters sehr früh mit einzubeziehen und „lieber eine Aufführung richtig, als viele halb“ zugänglich zu machen. Die blinde Kulturjournalistin Amy Zayed ergänzte mit Erfahrungen aus der Nutzer*innenperspektive.

„What do you need to do your best work?“

Diese Frage steht im Zentrum der Arbeit der britischen Bühnenbildnerin und Designerin Jo Paul. In ihrem Workshop „Inklusive Szenografie: Kostüme und Bühnenbilder für diverse Körper“ bot sie den Symposiumsgästen eine praktische Einführung in Fragestellungen rund um inklusives Bühnendesign und ließ in einem Film unterschiedliche Schauspieler*innen mit Behinderung zu Wort kommen.

Im Mittelpunkt des Workshops „Bewegung – Klang – Bild: Digitale Übersetzungen für ein inklusives Bühnenerlebnis“ der beiden Musiker und Digitalkünstler Tobias Hartman und Max Schweder (CYLVESTER) und des gehörlosen Tänzers Dodzi Dougban stand der Gedanke der Übersetzung: Wie können Klänge in Bilder und Bewegung in Musik gewandelt werden, um Menschen unterschiedlicher Sinnesvoraussetzungen ein gleichwertiges Bühnenerlebnis zu ermöglichen? Sie stellten hierzu Computer- und Algorithmus-gesteuerte Verfahren vor.

Ebenfalls um technische Möglichkeiten ging es im Workshop von Panthea „Von der Insellösung zum Standard: Individuelle technische Barrierefreiheit für Theaterpublikum mit Seh- und Höreinschränkungen“. David Maß stellte u.a. das Kooperationsprojekt von Panthea mit NT Gent, Belgien, vor, in dem es um eine umfassende, innovative Integration von Audiodeskription, Schriftdolmetschung und Gebärdensprache in Theater- und Opernproduktionen geht.
Das Abendprogramm im Rahmen des asphalt Festivals zeigte die Produktion SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP von Lucy Wilke und Paweł Duduś gemeinsam mit Kim Ramona Ranalter a.k.a. Kim Twiddle. Musikalisch begleitet durch Produktionen des Un-Label Music and Sound Departments „open excess – Jazz“ und „Unfall! – Live-Elektronik“ lud der Abend darüber hinaus zu Dialog und Begegnung im Biergarten des asphalt-Festivalgeländes in den Alten Farbwerken, Düsseldorf, ein.

Der Dank der Veranstalterinnen geht an alle Referent*innen, Podiumsgäste, Künstler*innen, Techniker*innen, Dolmetscher*innen und Gäste sowie an alle, die zum Gelingen beigetragen haben. Auf ALL IN 2024!

Eindrücke vom internationalen Symposium All IN 2022

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