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  • Porträt

Achtung! Spielfreude! Unterwegs mit der Kulturgeragogin Annie We

von Imke Nagel

Ein Porträt der Kulturgeragogin Annie We, die in Seniorenheimen, Quartiertreffs oder Festivals Älteren und intergenerationellen Gruppen mit Ukulele, einem Erinnerungskoffer und viel Lust an Improvisation und (Theater-)Spiel begegnet.

Sonst reist Annie We mit ihrem Bulli mitunter durch die ganze Republik: Berlin, Hamm, Münster, Wolfenbüttel und Oldenburg, aber auch in Wien macht sie Station. „Ich begegne unheimlich gern neuen Menschen und Orten, das macht einfach Spaß und bringt neue Ideen“, so die Kulturgeragogin, Musikerin und Theaterpädagogin. Besonders viel Freude macht es der 52-Jährigen, mit Älteren und Jüngeren gemeinsam Spielräume zu entdecken. Dabei arbeitet Annie We situativ. Mit ihrem intergenerationellen Theaterensemble „Achtung! Spielfreude!“ improvisiert sie je nach Laune und Vorliebe der Gruppe in Theaterspiel, Tanz oder Musik. Die Selbstbildung und das persönliche Wachstum ihrer Mitspieler*innen ist der Motor für die Arbeit der Kulturgeragogin: „Am besten ist dazu eine Aufführung, wenn alle in kürzester Zeit ein Stück wachsen und mit strahlenden Augen auf der Bühne stehen“.

Spielräume

Nach dem Abschluss der Weiterbildung zur zertifizierten Kulturgeragogin an der FH Münster im Jahr 2019 war die intergenerationelle Arbeit mit Grundschulkindern und Erwachsenen zwischen 67 und 91 Jahren für Annie We naheliegend. Denn zuvor hatte sie 20 Jahre als Kunstlehrerin und Theaterpädagogin in einer Grundschule gearbeitet. Als die Bezirksregierung sie wieder verstärkt als Lehrerin und weniger als Theaterpädagogin einsetzen wollte, wechselte sie mit 48 Jahren aus dem Beamtenverhältnis in die Freiberuflichkeit. Sie wollte „aus der Kiste rauskommen“ und die Welt der Lehrpläne und Bewertungslogiken gegen neue Spielräume auch für sich und ihren beruflichen Werdegang eintauschen. Dass das damals für sie ein großer Schritt war, ist schwer vorstellbar, wenn man die künstlerisch so souverän mit Werkzeugen aus Musik, Bildender Kunst und Theater agierende Kölnerin heute erlebt.

Startpunkt Musik

Die von ihr mit ihrer Ukulele und Gesang vorgetragenen Lieder werden oft zum Ausgangspunkt für biografisch Bedeutsames der Zuhörenden. In einem Angebot eines Bonner Bildungsträgers greift sie auf ein großes Repertoire an Liedern aus allen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zurück. Sie spürt mit Schüler*innen und mit Menschen in Altersheimen individuelle Lebenslieder auf und entwickelt daraus Mitsingkonzerte für Angehörige und Nachbar*innen.

Auch als Musikerin in Residenz in den Wohnbereichen von Senioreneinrichtungen spielt Annie We Schlager, Chansons oder Rock n‘ Roll, je nachdem was die Besuchten gerne mitsummen, singen oder auch nur hören. Zur non-verbalen, leiseren Kommunikation in den Zimmern kommt sie mithilfe von Erinnerungsstücken und Fotos oder von mimisch-gestischen Methoden mit den Älteren in den Austausch über ihre Lieblingsmusiken und Lebenswelten. Aufgestöberte Lebenslieder gibt sie an Pflegende weiter.

Erinnerungskoffer

Die Kulturgeragogin hat neben ihrer Ukulele und dem Liedrepertoire meist noch einen Erinnerungskoffer mit historischen Stücken aus ihrer Familie im Gepäck: ein Rosenkranz und ein Zylinder von den Großeltern, eine Schürze und das Hochzeitskleid ihrer Mutter, selbstgemalte Bilder aus ihrer Kindheit oder Schallplatten aus ihrer Jugendzeit. Wer mit ihr diesen Koffer auspackt, begibt sich auf eine biografische Zeitreise.

Gleich zu Beginn der Corona-Pandemie hat Annie We ihre musikalische Biografiearbeit als Haus- und Hofkonzerte für Seniorenheime und -gemeinschaften weitergeführt. In Absprache mit den gastgebenden Einrichtungen basieren die Konzertprogramme auf den Vorlieben der älteren Bewohner*innen. Die Haus- und Hofmusikantin stellt sich stets auf die Interessen und die Stimmung ihres Publikums ein: „Dann bin ich halt da und gucke, wie es läuft.“ Und wenn es passt, wird getanzt oder eine Theaterszene improvisiert.

Lebensrollen

Denn Theater ist nach wie vor ein wesentlicher Kern der Arbeit von Annie We. In Oldenburg gab sie im Rahmen eines Festivals 50 plus etwa einen Theaterworkshop explizit für Männer – eine Teilnehmerschaft, die in Angeboten Kultureller Bildung bislang noch deutlich unterrepräsentiert ist. Im Gewand des klassischen Western-Genres besprachen die Teilnehmer in der Szene „Frauen übernehmen die Stadt“, wie sie die Frauen in der Prärie wieder besänftigen könnten. Der Workshop öffnete den Männern nicht nur die Bühne für einen Saloon-Tanz und reichlich Spielspaß, sondern vor allem für vergangene und zukünftige Lebensrollen.

Um Lebensrollen ging es auch in einer Düsseldorfer Begegnungsstätte. Dort inszenierte Annie We gemeinsam mit der Kulturgeragogin Sophie Voets-Hahne mit einer intergenerationellen Gruppe die Revue „rückwärts träumen“ zu den 1960er und 1970er Jahren. Darin brachten ältere Frauen und Kinder ihre Lebenserfahrungen zu Motiven wie „Feten feiern“, „erste Treffen von Jungs“, „Schminkversuche“ und „petzende Geschwister“ auf die Bühne.

Haltestellen

Die zwei Kulturgeragoginnen organisieren auch gemeinsam die Treffen der Fachgruppe West des Fachverbands Kunst- und Kulturgeragogik und laden regelmäßig zum fachlichen Austausch ein. Annie We ist leidenschaftliche Netzwerkerin und schätzt die kollegialen Stränge, die sie im Fachverband knüpft. „Heimat ist da, wo ich andocken kann.“ Und das kann die überzeugte Kulturgeragogin mit ihrem spartenübergreifenden Know-how an vielen Orten.

Wenn sie einen Ausgleich zu ihren vielseitigen Projekten braucht, stellt sie ihren Bulli „einfach mal an den Rhein oder mitten in die Eifel“. Dann wird das Auto zum Kokon und sie hört genau hin bei den Liedtexten. Sie schreibt und komponiert, fotografiert und liest. Und wenn sie Lust hat, andere Menschen zu treffen, geht sie ein Bier trinken. „Dann lernt man Leute kennen.“ Dass dabei leicht neue Reisepläne entstehen, überrascht nicht. „Und dann guck ich mal, wo es mich hintreibt im nächsten Jahr“, freut sie sich.

Wo auch immer ihre Reise hingeht, kann Annie We sicher sein, dass sie ihre vielfältigen kulturgeragogischen Pfade nicht nur weiterverfolgen, sondern ausbauen, erweitern und variieren wird.

 

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