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  • Fachdiskurs

Schritt für Schritt – Ein Vorgehensmodell zur Analyse und Planung von Barrierefreiheit an Kulturinstitutionen

von Annette Ziegert

In dem deutsch-polnischen EU-Projekt „Culture without barriers“ arbeitete kubia von 2021 bis 2023 als transnationaler Partner an einem Modellrahmen für Barrierefreiheit an öffentlich geförderten Kulturinstitutionen in Polen mit. kubia-Mitarbeiterin und Projektleiterin Annette Ziegert stellt in dem Artikel das im Projekt entwickelte Vorgehensmodell vor.

Die Ausgangslage ist hier wie dort vergleichbar: In Deutschland wie in Polen werden bereits sinnvolle Maßnahmen zum Abbau von Barrieren an Kulturinstitutionen entwickelt. Eine strukturierte Vorgehensweise, die planvoll und ressourcenorientiert ein gleichberechtigtes Kulturerleben aller Menschen in den Blick nimmt, zur Managementaufgabe erklärt und als Querschnittsaufgabe in allen Organisationsbereichen verankert, findet sich jedoch selten. Hierzu ein Modell zu entwickeln, das flexibel auf alle Typen von Kulturinstitutionen und Kulturproduktionen aller Sparten anwendbar und gleichzeitig Werkzeug zur Analyse und Planung ist, ist eine spannende Herausforderung, die wir gern angenommen haben.

Voraussetzung kultureller Teilhabe

Barrieren zu senken oder besser noch, gar nicht erst entstehen zu lassen, bedeutet Gewinn für alle und verbessert die Teilhabe am Kulturleben. Für Menschen mit körperlichen, kognitiven, Sinnes- und psychischen Beeinträchtigungen kann der Abbau von Barrieren essenziell sein. Mangelnde Barrierefreiheit führt zum Ausschluss von Kulturteilhabe oder schränkt diese ein. Barrierefreiheit wird damit zur Voraussetzung dafür, überhaupt an Kultur partizipieren zu können. Das Vorgehensmodell fokussiert Menschen mit Behinderungen und damit einhergehende Barrieren, lässt sich aber auf jegliche Arten von Barrieren erweitern, die Menschen beim Besuch von Kulturorganisationen erleben können.

Publikum gewinnen

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BBG) legt in Artikel 4 fest, dass „alle gestalteten Lebensbereiche […] für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar [sein sollen]“. Für eine Kulturinstitution bedeutet das, sowohl das Gebäude als auch sämtliche Aktivitäten so zu gestalten, dass sie von allen autonom besucht werden können: Von der Website über das Ticketing, die Architektur, die Kulturveranstaltung selbst bis hin zum Besuch des Cafés sollten Personal wie Gäste alles eigenständig finden und nutzen können.

Barrieren zu senken, birgt auch die Chance, neues Publikum zu erreichen, das vorher nicht die Möglichkeit zu kultureller Teilhabe hatte. Der Abbau von Barrieren hat aber ebenso Relevanz für Menschen, die bereits gewohnt sind, Kulturangebote zu nutzen und im Laufe ihres Lebens Beeinträchtigungen in Bezug auf Körper, Kognition, Sinne und Psyche erfahren. Dazu zählen unter anderem ältere Menschen, die fast 70 Prozent der Menschen mit Behinderungen ausmachen.

Kulturproduktion und Servicekette

Herzstück von Kulturorganisationen sind ihre künstlerisch-kulturellen Aktivitäten. Das können Ausstellungen, Konzerte, Filmvorführungen und Lesungen ebenso wie Tanz- und Theaterperformances sein, aber auch künstlerisch-kulturelle Workshops und Diskursformate. Überlegungen zur Barrierefreiheit müssen folglich sowohl die Kulturproduktionen, Workshop- und Diskursformate als auch die Serviceketten, in die sie eingebettet sind, berücksichtigen. Es nutzt blinden Theaterbesucher*innen nichts, wenn zwar die Website mit Screenreader erfasst werden kann, es aber an Orientierungsmöglichkeiten vor Ort mangelt und sie das Theaterstück nicht mit einer Audiodeskription verfolgen können. Um Barrierefreiheit adäquat und lückenlos zu planen, müssen Kulturorganisation alle Berührungspunkte, die Menschen mit ihr haben, analysieren.

Die landläufige Auffassung

Barrierefreiheit wird häufig allein im Zusammenhang mit körperlicher Beeinträchtigung, der Nutzung von Rollstühlen und Gehhilfen und damit im Sinne architektonischer Barrieren verstanden. Kognitive, Sinnes- und psychische sowie Beeinträchtigungen der körperlichen Leistungskraft aufgrund von chronischen Krankheiten kommen nach dieser Auffassung gar nicht oder nur am Rande vor. Das Vorgehensmodell Barrierefreiheit befasst sich damit, Beeinträchtigungen in ihrer Bandbreite zu erschließen und in ihrer Verschiedenheit zur Erarbeitung von Maßnahmen operationalisierbar zu machen.

Kategorien und Merkmale

Wie lassen sich Barrieren strukturiert ermitteln? Das Vorgehensmodell übernimmt die Kategorien „Bewegen“, „Hören“, „Sehen“ und „Verstehen“, wie sie beispielsweise im Handbuch „Das barrierefreie Museum“ (2015) beschrieben sind. Um auch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen berücksichtigen zu können, haben wir den Bereich „Fühlen“ hinzugefügt.

Das Vorgehensmodell fragt nach den Barrieren, die im Wechselspiel von Merkmalen, wie zum Beispiel Schwerhörigkeit, Gehörlosigkeit, Seheinschränkung, Autismus oder Demenz, in Bezug auf die Kategorien „Bewegen“, „Hören“, „Sehen“, Verstehen“ und „Fühlen“ entstehen können. Es lädt dazu ein, Merkmale in möglichst großer Spezifizität zu benennen, um Maßnahmen der Barrierefreiheit mit hoher Passgenauigkeit zu erarbeiten. So ist beispielsweise in Bezug auf die Kategorie „Hören“ wichtig zwischen folgenden Merkmalen zu unterscheiden: a) einer Hörminderung, die durch ein Hörgerät ausgeglichen werden kann, b) verzerrtem Hören, c) Gehörlosigkeit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft Gebärdensprache und d) Gehörlosigkeit verbunden mit Lautsprachbegleitendem Gebärden (LBG). Alle vier Merkmale erfordern bei Kulturveranstaltungen andere Maßnahmen der Barrierefreiheit. Das Vorgehensmodell plädiert dafür, Merkmale faktenorientiert zu eruieren und aus ihnen keine Gesamtannahmen und Vorstellungen über Personen und deren Kulturinteressen zu entwickeln. In Merkmalgruppen anstelle von Zielgruppen zu denken, kann die stereotypisierende Gruppierung von Besucher*innen verhindern.

Das Modell

Das Vorgehensmodell setzt sich aus drei Komponenten zusammen, die miteinander kombiniert werden: 1) den Kategorien „Bewegen“, „Hören“, „Sehen“, Verstehen“ und „Fühlen“, 2) den Merkmalgruppen, die in Bezug auf die genannten Kategorien Barrieren erleben können und 3) den Berührungspunkten mit einer Kulturproduktion und der Servicekette, in die sie eingebettet ist (von Informationen zum Stück über den Ticketkauf, die Fahrt zum Veranstaltungsort, das Betreten des Gebäudes bis hin zur Veranstaltung selbst, der Besuch der Toiletten, des Cafés etc.). Die Merkmalgruppen werden in Beziehung zu den Berührungspunkten gesetzt und für jede Merkmalgruppe eigens ermittelt, an welchen Stellen es Barrieren gibt und wenn ja, welcher Art sie sind. Es ist wertvoll, mit Vertreter*innen von Merkmalgruppen die Berührungspunkte zu durchlaufen, um Barrieren zu verstehen, wirkungsvolle Maßnahmen zu entwickeln, diese zu evaluieren und stetig zu verbessern. Ebenfalls hilfreich ist der Austausch mit Kollegien anderer Organisationen, die bereits Lösungen entwickelt haben, oder Fachexpert*innen zu Rate zu ziehen.

Eine Frage der Entscheidung

Bestehendes nachträglich barrierefrei machen oder Barrierefreiheit von Beginn an mitdenken und in die Gestaltung integrieren: Zwischen diesen Optionen müssen Kulturorganisationen von Fall zu Fall entscheiden. Ressourcenschonender ist es in der Regel, integrierte Barrierefreiheit zu wählen. Bei allem, was neu entsteht, Barrierefreiheit von Beginn an mitzudenken und zu budgetieren, sollte zur Maßgabe erklärt werden.

Alles für alle gleichermaßen barrierefrei zu gestalten, ist eine wichtige Handlungsmaxime, wird aber in der Umsetzung unrealistisch bleiben. Maßnahmen der Barrierefreiheit sind immer an personelle und finanzielle Ressourcen gebunden, die begrenzt sind. Ein schrittweises Vorgehen mit dem Ziel, nach und nach für immer mehr Menschen ein barrierearmes, gleichberechtigtes und gleichwertiges Kulturerleben zu ermöglichen, ist daher nicht nur legitim, sondern der einzig realistische Weg. Nicht alle Barrierefreiheitsmaßnahmen sind mit hohen Kosten verbunden. Das heißt, dass auch Kulturorganisationen mit geringen finanziellen Mitteln Maßnahmen entwickeln können. Wichtig ist, nicht nach dem Gießkannenprinzip zu verfahren, sondern strukturiert Merkmalgruppe für Merkmalgruppe den ganzen Kulturbesuch in den Blick zu nehmen. Mit welchen Merkmalgruppen Kulturorganisationen starten, ist eine Frage der Entscheidung, die organisationsspezifisch getroffen werden muss. Jeder Schritt zählt!

Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John und Karin Maaß (Hrsg.) (2015): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript.

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