Literatur und Geragogik? Da mag man vielleicht zunächst an literarische Bildung im Alter denken, an den großen Buchmarkt und seine alternde Leserschaft, an Lesezirkel und Literatursalons, an Schreibwerkstätten für ältere Menschen und Lesepatenschaften von Älteren für die Jüngsten, an ein weites Feld literarischer und wortkünstlerischer Praxis mit ihren jeweiligen kulturgeragogischen Bildungsangeboten.
Dabei droht in Vergessenheit zu geraten, welche besondere Bedeutung literarische Texte für die Entstehung der Geragogik als wissenschaftliche Disziplin hatten: Der Begründer des wissenschaftlichen geragogischen Diskurses in Deutschland, Otto Friedrich Bollnow (1903–1991), leitete – jüngere Geragog*innen mögen lesen und staunen – seine Altersbildungstheorie nicht aus sozialwissenschaftlich erhobenen Daten, sondern aus Literatur und Wortkunst ab!
Wie nah sich der literarische und erziehungswissenschaftliche Diskurs sind, liegt eigentlich auf der Hand: In beiden stehen das Subjekt und seine Lern-, Bildungs- und Entwicklungsprozesse im Zentrum. Insbesondere die literarischen Gattungen des Bildungsromans und der Autobiografie haben seit dem 18. Jahrhundert einen von der Pädagogik eigenständigen Bildungsdiskurs entwickelt. Da sich seit den 1950er Jahren in der Literatur auch Erzählungen über Bildungsprozesse im höheren Lebensalter häufen, wird in den Literaturwissenschaften inzwischen von einer neuen Gattung gesprochen: dem Reifungsroman.
Diskursstifter der Geragogik
Der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow führte 1962 den Begriff der Gerontagogik in die Erziehungswissenschaft ein. Er konzipierte sie analog zur Pädagogik und zur Andragogik (Erwachsenenbildung) als erziehungswissenschaftliche Subdisziplin. Sein Artikel über „Das hohe Alter“ (1962) gilt als Gründungstext der Geragogik im deutschsprachigen Raum. Bollnow wird bis heute als „Pionier der Bildungsforschung im Bereich der älteren Erwachsenen“ wertgeschätzt, der „theoretisch die epistemologischen Grundlagen für die Bildung Älterer in der Erziehungswissenschaft“ geschaffen habe (Kern 2018, S. 18). Seine erziehungs- und bildungsphilosophischen Schriften werden in der allgemeinen Erziehungswissenschaft immer noch rezipiert. Trotz dieser anhaltenden Rezeption liegt bisher keine umfassende kritische Einordnung seiner Rolle im Nationalsozialismus und seiner pädagogischen Schriften in diesem Kontext vor. Auch im geragogischen Diskurs steht eine Einordnung seines Werks und Wirkens aus, die über die Rezeption seines Aufsatzes „Das hohe Alter“ hinausgehen und sein Projekt einer geisteswissenschaftlichen anthropologischen Gerontagogik innerhalb seines Gesamtwerks und seiner Zeit einordnen müsste. Das ist im Rahmen eines Aufsatzes nicht zu leisten. Was ich in der gebotenen Kürze aber in Erinnerung rufen möchte, ist Bollnows geisteswissenschaftlicher Ansatz, der die epistemologischen Grundlagen für eine Theorie Kultureller Bildung im Alter aus der Auseinandersetzung mit literarischen Texten entwickelt. An diese in Vergessenheit geratenen Grundlagen der Geragogik kann eine aktuelle kulturwissenschaftliche Altersbildungstheorie anknüpfen.
Tor zur Lebenserfahrung
Bollnow sah es als Aufgabe der Erziehungswissenschaft an, ein Altersbild zu formulieren, auf das hin das Erziehungs- und Bildungsverständnis einer professionalisierten geragogischen Praxis orientiert werden sollte. Anders als die heutige geragogische Forschung, die sich zumeist auf Interviews, Beobachtungsprotokolle und Daten aus standardisierten Erhebungsverfahren stützt, suchte Bollnow dieses Altersbild in der Literatur. In ihr sah er einen besonders geeigneten Zugang zur „allgemeinen Lebenserfahrung“: In der Literatur verdichte sich die schöpferische Qualität von Sprache und menschlichen Lebensäußerungen (Bollnow 1962, S. 391).
Heute gilt es, den Wert von Literatur und Wortkunst als Gegenstand geragogischer Forschung und Theoriebildung wieder (neu) zu entdecken. Dazu lässt sich an den Ansatz des Pädagogen Hans-Christoph Kollers „Bildung anders denken“ mit seiner „Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ (2013) anknüpfen: Koller verweist darauf, dass in literarischen Texten besonders „dichte Beschreibungen“ pädagogisch relevanter Sachverhalte vorliegen. Er konstatiert, dass auch der Wahrheitsgehalt autobiografischer Erzählungen in Interviews nur bedingt überprüft werden kann und zumindest die sogenannte realistische Literatur zwar eine fiktive, aber doch potenziell mögliche Wirklichkeit darstelle (Koller 2012, S. 172). Anders als Bollnow geht es ihm aber nicht darum, affirmativ ein Altersleitbild als Bildungsziel aus der Literatur abzuleiten, sondern darum, das skeptische und problematisierende Potenzial der Literatur als Widerstand zu nutzen. Mit Literatur als widerständigem Kontrast sollen wissenschaftliche Bildungstheorien einer „grundlegenden Revision unterzogen werden“ (ebd.).
Alterskrisen als Bildungsanlass
Bollnow hob als geragogisch vorbildhafte literarische Gestalt die Figur des Gotthelf Fibel aus Jean Pauls (1763–1825) Roman „Leben Fibels“ (1812) hervor. Er las Fibel als Zeugnis dafür, wie erst im „Durchgang“ durch die „hässlichen Auswirkungen der Alterskrisen“ das Alter als Bildungsaufgabe bewältigt werden könne (Bollnow 1962, S. 396). Unter Alterskrisen verstand Bollnow den oftmals schwierigen Umgang mit körperlichen Abbauprozessen, Krankheiten, das Nachlassen des Gedächtnisses sowie Prozesse der Erstarrung und Verfestigung von Gewohnheiten. In solchen Alterskrisen erkannte er jedoch auch ein besonderes Potenzial: Er sah sie als geradezu notwendigen Auslöser von Bildungsprozessen an, die im Falle ihrer Bewältigung zum Bildungsziel der „geistigen Verjüngung“ führen können: „Wenn wir diesen Vorgang, in dem dem Menschen das Leben also erstarrt und fest wird, als Altern und im extremen Fall als Vergreisung bezeichnen, dann ergibt sich hier die Aufgabe für den Menschen, sich diesem Prozeß (sic!) der Verfestigung entgegenzustemmen und die ursprüngliche Lebendigkeit des Lebens in ausdrücklicher Anstrengung wiederzugewinnen. Diese Aufgabe bezeichnen wir sinngemäß als Verjüngung.“ (Bollnow 1965, S. 548). Seine Theorie von Bildung als geistige Verjüngung leitet er aus Hermann Hesses (1877–1962) Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ (1932/1982) und Hesses berühmten Gedicht „Stufen“ (1941) ab. Dabei betont er, dass die innere Verjüngung nichts mit einer Flucht vor dem Alter zu tun habe, sondern vielmehr als eine bewusste Bejahung des Alters zu begreifen sei. Eben ganz so, wie es Hesse (1941/1961, S. 199) in seinem Gedicht „Stufen“ zum Ausdruck gebracht habe:
„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Diese Einsicht in die Bedeutung von Alterskrisen als geragogischer Bildungsanlass droht heute immer wieder durch die gerontologische Kritik an den sogenannten negativen Altersbildern verschattet zu werden. Dabei ist es für die Geragogik in Theorie und Praxis von großer Relevanz, die Relation von Altersbildung und Alterskrisen unter Berücksichtigung von Diversität und auch historisch unterschiedlichen Lebenslagen im Alter immer wieder neu zu denken. Dabei lässt sich Bollnows Ansatz mit Bezug auf neuere bildungstheoretische Ansätze wie die Theorie transformatorischer Bildung (vgl. Koller 2012) oder phänomenologischen Theorien, die auch die Negativität von Bildung im Alter berücksichtigen (vgl. Brinkmann 2006) nach- und über-denken.
Transformatorische Altersbildung
Wenn Bollnow von Bildung und Erziehung älterer Menschen spricht, dann ist bei ihm immer auch ästhetische Erziehung gemeint. Literatur und Dichtung zeichnen sich aus Bollnows Sicht durch ihre Fähigkeit zur „Verjüngung der Sprache“ aus und seien deshalb gleichzeitig das geeignete „Mittel zur Verjüngung des Menschen“: Die Künste seien „imstande, den Menschen aus seinem erstarrten und gedankenlos gewordenen Leben herauszureißen, ihn die Wirklichkeit neu sehen zu lassen und zu neuer Auseinandersetzung zu zwingen“ (Bollnow 1965, S. 555). Ebenso wie der Durchgang durch die Negativität der Alterskrisen, ermöglicht nach Bollnow die Begegnung mit Kunst einschneidende Bildungsprozesse, wie sie in Rainer Maria Rilkes (1875–1926) Gedicht über den „Archaïschen Torso Apollos“ (1908/1955) zum Ausdruck kommen. Die existenzielle Begegnung mit einem Kunstwerk erzwinge manchmal geradezu eine Einsicht, die den Schlusspunkt von Rilkes Gedicht bildet: „Du musst dein Leben ändern“! (Ebd., S. 557) Dieses Gedicht trete – so Bollnow – dem Menschen mit einem solchen „Absolutheitsanspruch entgegen, durch den er im innersten Kern seines Wesens erschüttert wird“ (Bollnow 1983, S. 61).
Auch wenn heute Bollnows anthropologische Altersbildungstheorie allzu normativ, ahistorisch und eurozentristisch erscheint, so erinnert sie doch daran, dass Literatur und Wortkunst – wie die Künste überhaupt – einen besonderen Erkenntnisgewinn für das gerontologische und geragogische Wissen beinhalten. Bollnows Ansatz, aus Literatur und Wortkunst Altersleitbilder für die geragogische Theorie und Praxis abzuleiten, vernachlässigt die Einsicht, dass literarische Texte geragogische Ambitionen auch kräftig irritieren und problematisieren können. Ein solch skeptisches Potenzial bietet im Hinblick auf Bollnows Theorie der ästhetischen Erziehung als lebensverändernde Begegnung mit dem Kunstwerk beispielsweise Philip Roths (1933–2018) Roman „Der Ghost Writer“ (1979), die eben jenes Postulat des „Du musst Dein Leben ändern!“ ironisch zitiert: „Meiner Meinung nach würde selbst der ungeschlachteste Hunne den größten Teil des Winters brauchen, die vereisten Wasserfälle und windgepeitschten Wälder dieser Bergwildnis zu durchqueren, ehe er es schaffte, den offenen Rain von Lonoffs Heuwiesen zu erreichen, gegen die nach hinten hinausgehende Sturmtür des Hauses zu hämmern und hindurchzustürmen ins Arbeitszimmer, die spitzenbewehrte Keule hoch über der kleinen Olivetti herumwirbeln zu lassen und dem Schriftsteller, der dabei war, seine siebenundzwanzigste Fassung hinzutippen, mit aufbrüllender Stimme sein ‚Du musst Dein Leben ändern!‘ zuzuschreien. Doch selbst er könnte den Mut verlieren (…).“ (Roth 1979/2004, S. 39)
Ageing trouble
Auch die Schattenseiten und Zumutungen eines geragogischen Leitbilds, das radikale Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen zur normativen Richtschnur für Bildungsprozesse macht, lassen sich durch die Rezeption literarischer Darstellungen des Alters beleuchten. Literatur und Wortkunst stellen geragogische Leitbilder, Altersbilder und Handlungsprinzipien immer wieder skeptisch, problematisierend wie selbstkritisch und gleichzeitig anschaulich infrage. Dass der literarische Diskurs – wie die Künste überhaupt – weit über die bloße Einbettung gerontologischen und geragogischen Wissens hinausgeht, sich vielmehr widerständige, kreative und zukunftsweisende performative Neueinschreibungen von Altersbildern im literarischen Diskurs besonders eindrücklich vollziehen, zeigen Text- und Diskursanalysen, die auch die diskursiven Strategien solcher Neueinschreibungen berücksichtigen: Der neuere literarische Diskurs ist voll mit Erzählungen von „Ageing trouble“ (Haller 2005), in denen Altersbildungsprozesse immer wieder aufs Neue anders erzählt werden, Altersbilder und Bildungsnarrative zitiert und gleichzeitig performativ neu eingeschrieben werden. Es ist also im besten Sinne unzeitgemäß – das heißt mit anderen Worten: an der Zeit! – den literarischen Diskurs über Bildung im Alter wieder in seinem geragogischen Wissen ernst zu nehmen und Bildung im Alter neu zu (er-)lesen.