Am 23. Mai 2011 ging erstmals der einjährige Zertifikatskurs „Kulturgeragogik – Kulturarbeit mit älteren Menschen“ mit sechszehn Teilnehmenden und einem interdisziplinären Team von Dozentinnen und Dozenten aus Theorie und Praxis an den Start. Ziel der Zusammenarbeit von kubia mit der FH Münster war und ist es, durch Professionalisierung und Weiterbildung von Fachkräften mehr und qualitätsvollere Teilhabemöglichkeiten an Kunst und Kultur für ältere Menschen zu schaffen – für mehr Lebensqualität und Lebenszufriedenheit.
In dem berufsbegleitenden Zertifikatskurs erhalten Fachkräfte fundiertes Rüstzeug für ihren beruflichen Alltag bzw. ihre Berufsfelderweiterung: Sie erlernen Grundlagen der Gerontologie, Geragogik und Geriatrie, nehmen Einblick in die Methoden verschiedener Kunstsparten und erproben das Erlernte in einem selbst durchgeführten Praxisprojekt. Inzwischen haben sich 117 Absolventinnen und Absolventen in acht Kursdurchläufen zu Kulturgeragog*innen qualifiziert und praktizieren seitdem Kulturarbeit mit Älteren unter anderem in Museen, Theatern, Literaturhäusern und Kunstateliers.
Ran an die Alten
Die Lebensphase des Alters bringt spezifische Themen mit sich: die Frage nach sinnhafter Lebensgestaltung im Ruhestand, nach Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements, aber auch danach, wie Kulturteilhabe trotz Armut, Einsamkeit oder besonderer Bedarfe aufgrund veränderter körperlicher Konstitution gelingen kann.
Kulturgeragogin und Musikjournalistin Anja Renczikowski, die Konzertbesuche und Konzertvermittlung für Menschen mit Demenz organisiert, ärgert es, dass Ältere als Zielgruppe oftmals nicht so ernst genommen werden wie Jüngere. Die bildungspolitischen Forderungen nach Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit dürften Menschen im Alter nicht ausschließen. Kulturgeragogin und Kulturmanagerin Ulrike Ritter, Leiterin der Abteilung Lebenslanges Lernen im Kulturzentrum Bürgerhaus Wilhelmsburg in Hamburg unterstreicht diese Beobachtung mit einem Bericht aus der Stadtteilkultur: „Lange Zeit ging es nur darum, Jüngere zu erreichen, um nicht altbacken zu sein, um neuen Generationen zu entsprechen.“ Im Bürgerhaus plant sie inzwischen sensibel für Menschen mit Demenz und mit anderen durch Hochaltrigkeit bedingten Einschränkungen. Bereits bei der Planung von Veranstaltungen legt sie ihr Augenmerk auf mit Sorgfalt ausgewählte Inhalte sowie auf die Gegebenheiten, wie hinreichende Beleuchtung und akustisch gut verständliche Redebeiträge. Auch der Tanztee ist inklusiv: Neben körperlich fitten Tanzlustigen sind auch jene mit Rollstuhl oder Rollator dabei. Christiane Maaß, Kulturgeragogin und Projektmanagerin für Kulturelle Bildung und Teilhabe im Kulturbüro der Stadt Oldenburg, initiierte 2019 erstmals das „blue OL Kulturfestival 55+“ speziell für Menschen ab 55 bis hin zur Hochaltrigkeit und entwickelte im Folgejahr coronabedingt ein Konzept für Außenveranstaltungen. Sie organisierte mehr als 50 Balkon- und Freiluftaufführungen von Musikerinnen, Zirkuskünstlern und Schauspielerinnen vor Pflegeeinrichtungen und Behindertenwohnheimen. Das Credo der Kulturgeragogin: „Wir müssen an die Alten ran!“
Beruflich neue Wege
„Die“ Alten gibt es natürlich nicht: Jeder Jeck ist anders, egal wie alt er ist. Deshalb ist es von Vorteil, dass die Absolventinnen und Absolventen des Münsteraner Zertifikatslehrgangs aus unterschiedlichen Berufsfeldern kommen. Klassische Kultur- und Kunstvermittler, Kulturmanagerinnen, Kultur- und Theaterpädagogen sowie Tänzer sind ebenso vertreten wie Tätige aus der Sozialen Altenarbeit oder Pflege. Durch sie ist Kulturgeragogik zum Bestandteil zahlreicher Arbeitsbereiche geworden. Für die heterogene Gruppe der alten Menschen entstehen entsprechend vielgestaltige Angebote.
Die Qualifizierung „Kulturgeragogik“ vermittelt ein breit gefächertes Wissen zur Altenkulturarbeit, aus dem sich die Studierenden die für ihre jeweiligen Bedarfe geeigneten Arbeitswerkzeuge zusammenstellen und weiterentwickeln können. So inspiriert die Teilnahme häufig zu einem neuen Arbeitsschwerpunkt oder zur Erfindung neuer Angebotsformen. So wie bei der Theaterpädagogin, Musikerin und Kulturgeragogin Annie Windgätter. Freiberuflich plant sie aktuell eine offene Bühne, auf der Jung und Alt ihre Standpunkte in Theater übersetzen.
Die Qualifizierung ist europaweit nach wie vor einzigartig. Die Sprachtherapeutin Priscilla Cassar nahm sogar den Weg von Malta nach Münster auf sich, um sich als Kulturgeragogin weiterzubilden. „Professionell und akademisch hat mich die Qualifizierung weit gebracht“, so Cassar. Für den Master of Gerontology and Geriatrics forschte sie zum Lernen im vierten Lebensalter und Kulturgeragogik. Dafür erhielt sie den Deanʼs Award – eine Auszeichnung für hervorragende Leistungen für Studierende der Geisteswissenschaften; eine Veröffentlichung ihrer Arbeit im „International Journal of Education and Ageing (2019)“ folgte. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachtherapeutin im Mater Dei Hospital in Malta arbeitet sie mit Älteren dialogisch zu Kunstwerken, Poesie und Büchern sowie zum kreativen Schreiben.
Die Kompetenzen und Perspektiven, die Kulturgeragog*innen aus verschiedensten Berufen mitbringen, befruchten das Tätigkeits- und Forschungsfeld, und spiegeln „die Komplexität der Kulturgeragogik und die Heterogenität der Zielgruppe“ wider, so Mitbegründer der Qualifizierung Hans Hermann Wickel, der bis im vergangenen Jahr die Professur für Ästhetik und Kommunikation am Fachbereich Sozialwesen mit dem Schwerpunkt Musik der FH innehatte.
Empowerment ohne Schablonen
Grundlegend für die kulturgeragogische Arbeit ist die Reflexion der Haltung zum eigenen Alter und persönlicher Altersbilder. Die Kulturgeragogin und Kunstpädagogin Sophie Voets-Hahne beobachtet in ihrer Arbeit, dass Ältere häufig in eine Rolle gebracht werden, die ihnen nicht angemessen sei. Zu oft werde in der Kulturarbeit dann „unten angesetzt“ statt Lebenswerk und Erfahrungsschatz anzuerkennen.
Priscilla Cassar sieht es als Notwendigkeit – so eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse aus der Qualifizierung – „immer wieder darüber nachzudenken, was die älteren Erwachsenen selbst brauchen und wollen, und sie in diesem Prozess zu empowern“. Ein offener und ressourcenorientierter Blick auf die Menschen ist für kulturelle Bildungsarbeit mit Älteren unerlässlich.
Querschnittsthemen Kultureller Bildung, wie Inklusion, Interkultur und intergenerationelle Arbeit, beleuchten die Kulturarbeit mit Älteren mit unterschiedlichem Fokus. Sie sind aus dem kulturgeragogischen Diskurs und Handeln nicht wegzudenken. In ihren Qualitätsstandards richtet sich die kulturgeragogische Arbeit sowohl an den in der Wissenschaft von Bildung und Lernen im Alter, der Geragogik, beschriebenen Qualitätszielen (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2010) als auch an den kulturpädagogischen Handlungsprinzipien (vgl. Braun / Schorn 2013 / 2012) aus.
Zugehörigkeit und Vernetzung
In den vergangenen zehn Jahren sind Berufsprofile geschärft, gezielte Fort- und Weiterbildung in Anspruch genommen und berufliche Heimaten gefunden worden. Kulturgeragogin Annie Windgätter formuliert dazu: „Ich kann mich beruflich zugehörig fühlen; ich bin nicht allein.“
Um der Kulturgeragogik auch auf Verbandsebene ein Dach zu geben, hat sich 2014 der Fachverband Kunst- und Kulturgeragogik gegründet. Hier sind Absolventinnen und Absolventen, Dozierende und Leitende der Weiterbildung Kulturgeragogik sowie der Kunstgeragogik an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel organisiert. Ziel des Fachverbands ist eine verstärkte Wahrnehmung und höhere Relevanz der Kunst- und Kulturgeragogik in der Gesellschaft. Durch Forschung sowie Fort- und Weiterbildungen soll die qualitätsvolle Bildungsarbeit mit Älteren weiterhin befördert und gesichert werden. Bislang haben sich im Fachverband zwei Regionalgruppen in West- und Süddeutschland gegründet, die sich zum regelmäßigen Austausch treffen. Die Gründung einer weiteren Regionalgruppe ist geplant.
Hans Hermann Wickel stellt rückblickend auf die Entwicklung der Kulturgeragogik fest: „Die gesamte Szene ist wissenschaftlich breiter unterfüttert, wird gesellschaftlich oder auch in den Verbänden stärker wahrgenommen und hat sich zunehmend differenziert.“ Auch die Anzahl an Fort- und Weiterbildungen und Fachtagen sowie das Literaturangebot zum Arbeitsfeld sei gewachsen.
Wenn du mal groß bist
Bei aller positiven Entwicklung gibt es dennoch Wünsche für ein weiteres Gedeihen des Geburtstagskinds. Beim Auspusten der Geburtstagskerzen denken nicht wenige an angemessene Honorare. Hans Hermann Wickel unterstreicht: „Was ganz klar besser werden muss, ist das Bewusstsein bei vielen Trägern, dass auch Kunst Arbeit macht und einer speziellen Expertise bedarf.“ Eine angemessene Bezahlung qualitätsvoller Kulturarbeit mit Älteren ist vielerorts noch keine Normalität.
Ein großes Bündel an guten Wünschen lässt sich unter der Überschrift Teilhabegerechtigkeit zusammenfassen. Sophie Voets-Hahne stellt fest, dass die „Bildende Kunst oftmals bürgerlich konnotiert“ sei und wünscht sich von Museen emanzipatorische, partizipative Zugänge für Menschen ohne klassische Bildungsbiografie. Christiane Maaß merkt an, dass es in Pflegeheimen an Personal für Kulturarbeit fehle und setzt fest angestellte Kulturgeragoginnen und -geragogen auf ihre Wunschliste. Anja Renczikowski fordert mehr Projekte zum Musikfundus von Älteren mit Einwanderungsgeschichte. Und Annie Windgätter spricht sich für mehr generationsübergreifende und künstlerisch-handwerkliche Angebote insbesondere für Männer aus.
Zu wünschen bleibt dem Geburtstagskind, dass es im neuen Lebensjahrzehnt weiter so gut reift und sich bis ins hohe Alter den frischen und forschenden Blick bewahrt.